Insolvenzeröffnungsverfahren – und die Vorsteuer

§ 55 Abs. 4 InsO ist nur auf Masseverbindlichkeiten, nicht aber auch auf Vergütungsansprüche zugunsten der Masse anzuwenden. 

Insolvenzeröffnungsverfahren – und die Vorsteuer

Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründet worden sind, gelten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 55 Abs. 4 InsO als Masseverbindlichkeiten.

Im Rahmen von § 55 Abs. 4 InsO sind auch Vorsteuerbeträge abzuziehen, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründet worden sind und die daher im Rahmen der Steuerberechnung für die § 55 Abs. 4 InsO unterliegenden Voranmeldungszeiträume masseverbindlichkeitsmindernd wirken[1].

Hieraus folgt nichts anderes für den Fall eines Vorsteuerüberhangs, der für die § 55 Abs. 4 InsO unterliegenden Voranmeldungszeiträume zu einem Vergütungsanspruch führt. Maßgeblich ist hierfür der auf Verbindlichkeiten eingeschränkte Wortlaut des § 55 Abs. 4 InsO. Danach werden nur Verbindlichkeiten den Masseverbindlichkeiten zugewiesen. Diese Beschränkung auf den Steueranspruch steht einer Erstreckung der Vorschrift auf andere Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i.S. von § 37 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO), wie etwa dem Steuervergütungsanspruch, entgegen[2].

Abweichendes ergibt sich auch nicht aus einer Zuordnungswirkung im Voranmeldungsverfahren. Denn Voranmeldungen kommt für die Jahressteuerfestsetzung keine materiell-rechtliche Bindungswirkung zu.

Der Vorauszahlungsbescheid ist zu keinerlei materiellen Bestandskraft in dem Sinne fähig, dass er mit gegenüber dem Jahressteuerbescheid durchsetzungsfähiger Verbindlichkeit über das Bestehen einer Umsatzsteuer(vorauszahlungs)schuld entscheidet[3]. Denn vorläufige Bescheide werden materiell nicht bestandskräftig. Nur der endgültige Jahressteuerbescheid ist uneingeschränkt anfechtbar, auch wenn er einen vorläufigen Bescheid nur bestätigt[4]. Dementsprechend geht z.B. auch eine Änderung eines Umsatzsteuervorauszahlungsbescheids nach dem wirksamen Ergehen des Umsatzsteuerbescheids über den Besteuerungszeitraum des Kalenderjahres ins Leere[5].

Diese unmittelbar das Steuerfestsetzungsverfahren betreffende Rechtsprechung ist auch bei der Zuordnung von Steueransprüchen zum Insolvenzbereich des § 38 InsO und zum Massebereich des § 55 InsO zu beachten. Daher ist für das Jahr der Insolvenzeröffnung nicht nur über das Bestehen und den Umfang des Steueranspruchs, sondern auch über seine insolvenzrechtliche Einordnung abschließend erst bei der Jahressteuerberechnung und der insolvenzrechtlichen Durchsetzung des Jahressteueranspruchs zu entscheiden. Dabei ist der Teil der Jahressteuer, die Insolvenzforderung ist, zur Insolvenztabelle anzumelden (§§ 174 ff. InsO), während der Teil der Jahressteuer, die zu einer Masseverbindlichkeit nach § 55 InsO führt, durch Steuerbescheid festzusetzen ist[6]. Hierfür entfaltet die Sachbehandlung im Voranmeldungsverfahren und die rein arbeitstechnische Erfassung unter unterschiedlichen Steuernummern für die Bereiche der §§ 38, 55 InsO keinerlei Bindungswirkung.

Dabei verneint der Bundesfinanzhof die Gefahr einer Doppelerfassung oder einer fehlerhaften Nichtberücksichtigung einzelner Besteuerungsgrundlagen, so dass auch dies nicht für eine Zuordnungswirkung des Voranmeldungsverfahrens spricht. Denn dem Tabelleneintrag der Umsatzsteuerjahresinsolvenzforderung kommt nur die Wirkung eines nach § 130 AO änderbaren Feststellungsbescheids zu[7]. Daher kann eine fehlerhafte Doppelerfassung einzelner Besteuerungsgrundlagen in den Bereichen der §§ 38, 55 InsO ebenso wie eine unzutreffende Nichtberücksichtigung nachträglich durch eine Änderung der für den Masseverbindlichkeitsbereich ergangenen Steuerfestsetzung wie auch durch eine Änderung des Tabelleneintrags korrigiert werden.

Über die letztlich angestrebte Klärung, „ob ein nach der Saldierung gem. § 16 Abs. 2 Satz 1 [des Umsatzsteuergesetzes (UStG)] verbleibendes Vorsteuerguthaben aus dem Zeitraum der vorläufigen Verwaltung in die erste Voranmeldung nach Eröffnung vortragsfähig und mit Umsatzsteuern aus Lieferungen und Leistungen nach Insolvenzeröffnung saldierungsfähig ist“[8], kann somit nicht im Streitfall, der das Voranmeldungsverfahren betrifft, sondern nur im Rahmen einer den Massebereich des § 55 InsO betreffenden Jahressteuerfestsetzung entschieden werden.

Auf die Überlegungen des Finanzamt zur Auszahlung der Vergütungsansprüche unter der Insolvenzsteuernummer ohne Aufrechnung mit anderen Insolvenzforderungen kommt es nicht an.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. Juli 2020 – V R 26/19

  1. vgl. zu den Einzelheiten BFH, Urteil vom 24.09.2014 – V R 48/13, BFHE 247, 460, BStBl II 2015, 506[]
  2. MünchKommInsO/Hefermehl, 4. Aufl., § 55, Rz 240; kritisch Thole in Karsten Schmidt, Insolvenzordnung, 19. Aufl., § 55 Rz 46, jeweils m.w.N.[]
  3. BFH, Urteil vom 15.06.1999 – VII R 3/97, BFHE 189, 14, BStBl II 2000, 46[]
  4. vgl. BFH, Urteil vom 13.11.1975 – IV R 61/75, BFHE 120, 1, BStBl II 1977, 126[]
  5. BFH, Urteil vom 29.11.1984 – V R 146/83, BFHE 143, 101, BStBl II 1985, 370[]
  6. vgl. zur Aufteilung in „Umsatzsteuerjahresinsolvenzforderung“ und „Umsatzsteuerjahresmasseverbindlichkeit“ auch BFH, Urteil vom 27.09.2018 – V R 45/16, BFHE 262, 214, BStBl II 2019, 356[]
  7. BFH, Urteil vom 24.11.2011 – V R 13/11, BFHE 235, 137, BStBl II 2012, 298[]
  8. Uhlenbruck/Sinz, Insolvenzordnung, 15. Aufl., § 55 Rz 119[]

Bildnachweis:

  • Finanzamt: Michael Gaida