Das Kriterium der Ortsnähe bei einer Fahrzeit von vielleicht 50 Minuten (Entfernung etwa 64 km) vom Kanzleisitz zum Gerichtsort kann – auch in Anbetracht heute allgemein zur Verfügung stehender moderner Kommunikationsmittel – nicht in der Weise allgemein gefordert werden, dass eine Einschränkung im Listing zu rechtfertigen wäre.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 03.08.2009 zum Kriterium der Ortsnähe bereits durchaus kritisch ausgeführt: Die Zulässigkeit des Eignungskriteriums der Ortsnähe, so wie es in den angegriffenen Entscheidungen angewendet wurde, erscheint in verfassungsrechtlicher Hinsicht zweifelhaft. Grundsätzlich obliegt es den Fachgerichten, die Sachgerechtigkeit dieses Kriteriums und seiner Konkretisierungen zu beurteilen. In der Praxis der Fachgerichte und im Schrifttum ist umstritten, ob die Ortsnähe eines Insolvenzverwalters oder seines Büros ein sinnvolles Kriterium für die Vorauswahl darstellt. Streitig ist zudem, nach welchen Gesichtspunkten die Ortsnähe gegebenenfalls sachgerecht bestimmt werden kann. Teils wird die Ortsnähe nicht als generelle Eignungsvoraussetzung, wohl aber als tauglicher Gesichtspunkt für die Ausübung des Auswahlermessens im Einzelfall behandelt.
Das Berliner Kammergericht hat zu dieser Frage Folgendes ausgeführt: Die Frage, ob die Ortsnähe eines Insolvenzverwalters oder seines Büros ein sinnvolles Kriterium für die Vorauswahl oder erst für die Ausübung des Auswahlermessens im Einzelfall darstellt, und nach welchen Gesichtspunkten die Ortsnähe gegebenenfalls sachgerecht bestimmt werden kann, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass die pauschale Forderung nach persönlicher Anwesenheit (im entschiedenen Fall an mindestens zwei Tagen pro Woche) angesichts moderner Kommunikationsmittel nicht der Sicherstellung der genügenden Erreichbarkeit des Insolvenzverwalters dienen könne. Auch wenn man eine persönliche Ansprechbarkeit vor Ort während der Bearbeitung von Insolvenzverfahren oder eine gewisse Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten aus Sachgründen für geboten halten sollte, erscheine es doch bedenklich, unabhängig von aktuell bearbeiteten Verfahren und den sich daraus ergebenden Anforderungen pauschal eine Anwesenheit an mindestens zwei Tagen pro Woche zur Voraussetzung schon für die Aufnahme in den Kreis der generell geeigneten Bewerber zu machen. Jedenfalls verstieße es gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit, wenn Insolvenzgerichte mit nicht hinreichend differenzierenden Anforderungen an die Ortsnähe faktisch ein Lokalisationsprinzip für Insolvenzverwalter einführten. Da § 56 InsO der sachgerechten Durchführung des Insolvenzverfahrens und damit der Wahrung der Interessen der Gläubiger wie auch des Schuldners dient und nicht geschaffen ist, um Insolvenzverwaltern die berufliche Betätigung zu ermöglichen, muss sich auch die Auslegung und Konkretisierung der Eignungskriterien an diesen Interessen orientieren. D. h., es ist zu fragen, ob und in welchem Ausmaß es für die Abwicklung des Insolvenzverfahrens zur Wahrung schützenswerter Belange der Gläubiger und des Schuldners erforderlich ist, dass der Insolvenzverwalter sein Büro in der Nähe des Insolvenzgerichts oder des Wohn- oder Betriebsorts des Schuldners betreibt.
In ähnlicher Weise kritisch hat auch das OLG Düsseldorf zum Kriterium der Ortsnähe als generelles Auswahlkriterium entschieden.
Auch das Oberlandesgericht Celle hat bereits mit Beschluss vom 09.08.2008 in einem im Ansatz vergleichbaren Fall des AG Syke entschieden, dass die Ablehnung eines Bewerbers bereits für die Aufnahme in die Vorauswahlliste allein mit dem fehlenden Sitz der Kanzlei im Amtsgerichtsbezirk nicht begründet werden könne, weil für dieses Verfahren die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der persönlichen und fachlichen Eignung im Vordergrund stehe.
Diese Erwägungen gelten auch im vorliegenden Fall. Mit dem Kammergericht ist das Oberlandesgericht der Auffassung, dass der Insolvenzverwalter nicht ohne Terminvereinbarung und Vorankündigung in seinem Büro vor Ort stets greifbar sein muss. Eine solche jederzeitige persönliche Präsenz mit einer Garantie zur tatsächlichen Gesprächsmöglichkeit können die Verfahrensbeteiligten auch von einem Verwalter, der sein (einziges) Büro an dem Ort des Gerichts hat, nicht erwarten, da dieser auch mit anderen Verwaltungen und gegebenenfalls mit einem anderen Beruf befasst ist und befasst sein darf. Von einem Insolvenzverwalter, der sich um die Bestellung an einem Gericht bemüht, das sich nicht in unmittelbarer Nähe zu seinem ständigen Büro befindet, ist vielmehr zu erwarten, dass er für – auch kurzfristige – Terminvereinbarungen zur Verfügung steht und diese nicht mit Hinweis auf seine Anfahrtszeit ablehnt. Auch die Möglichkeit zur persönlichen Abgabe von Unterlagen und zu Terminvereinbarungen kann der Insolvenzverwalter in der Weise schaffen, dass er vor Ort eine Zweigstelle seines Büros unterhält, auch wenn dieses personell nicht in einer Weise ausgestattet ist, die die selbständige Bearbeitung des Insolvenzverfahrens allein von dort aus ermöglicht. Diese Voraussetzungen haben die Antragsteller aber mit dem von ihnen vorgehaltenen Büro in H. in hinreichender Weise geschaffen.
Diese Erwägungen zeigen, dass das Kriterium der Ortsnähe auch bei einer Fahrzeit von vielleicht 50 Minuten (Entfernung etwa 64 km) vom Kanzleisitz zum Gerichtsort auch in Anbetracht heute allgemein zur Verfügung stehender moderner Kommunikationsmittel nicht in der Weise allgemein gefordert werden kann, dass eine Einschränkung im Listing – wie vorgenommen – zu rechtfertigen wäre. Hierfür spricht auch die Funktion der Vorauswahlliste: Insbesondere der Schutz der Gläubigerrechte erfordert eine zügige Entscheidung über die Bestellung des Insolvenzverwalters und damit auch eine schleunige Auswahl unter den Bewerbern. Der Insolvenzverwalter hat unmittelbar nach Eröffnung des Verfahrens mögliche Sanierungschancen und Möglichkeiten zu Gesamtveräußerungen zu ermitteln sowie das Vermögen zu sichern, zu erhalten und vor drohenden Wertverlusten zu bewahren. Er muss unter Umständen das Unternehmen einstweilen fortführen, die erforderlichen Personalmaßnahmen treffen und Arbeitsplätze nach Möglichkeit erhalten. Die Vorauswahlliste soll damit ein zuverlässiges Hilfsmittel für den Insolvenzrichter darstellen, auch unter hohem Zeitdruck sein Auswahlermessen zutreffend auszuüben. Sähe man die Ortsnähe als geeignetes Auswahlkriterium für die Aufnahme in die Vorauswahlliste an, würden u. U. gerade solche Bewerber nicht aufgenommen, die z. B. besondere Spezialkenntnisse und Erfahrungen besitzen, aber ihren Kanzleisitz weiter entfernt vom Insolvenzgericht haben. Dies wäre aber insofern bedenklich, als Insolvenzverfahren denkbar sind, bei denen das Kriterium der Ortsnähe angesichts von erforderlichen Spezialkenntnissen und Erfahrungen völlig in den Hintergrund zu treten hat. Es erscheint daher eher geboten, dass die Fragen, ob die im einzelnen Insolvenzfall gebotene Präsenz des Verwalters “vor Ort” vom Bewerber gewährleistet werden kann, und ob dieser über ausreichende Kenntnisse örtlicher Verhältnisse, die für das Verfahren von Nutzen sein könnten, verfügt, (erst) im Rahmen der konkreten Auswahlentscheidung vom Insolvenzrichter abzuwägen sind.
Oberlandesgericht Celle, Beschluss vom 4. März 2015 – 16 VA 1/15