Die Urlaubsabgeltung als Masseverbindlichkeit

Nimmt ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Arbeitgebers die Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch in Anspruch, hat er einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Urlaubsabgeltung in voller Höhe als Masseverbindlichkeit zu berichtigen.

Die Urlaubsabgeltung als Masseverbindlichkeit

Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Dieser Abgeltungsanspruch ist im beschriebenen Fall eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 2 Satz 2 iVm. Satz 1 InsO.

§ 55 Abs. 2 Satz 2 InsO sieht die Begründung von Masseverbindlichkeiten vor, „soweit“ der starke vorläufige Insolvenzverwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. Der Begriff „soweit“ bedingt bezogen auf Arbeitsverhältnisse keine Einschränkung in dem Sinne, dass nur Ansprüche des Arbeitnehmers erfasst werden sollen, welche unmittelbar auf einer tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung beruhen. Entscheidet sich der starke vorläufige Insolvenzverwalter für die Inanspruchnahme der Arbeitskraft eines Arbeitnehmers, hat er alle Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis als Masseverbindlichkeiten zu erfüllen („Gesamtpaket“). Hiervon umfasst sind auch Ansprüche, denen keine Wertschöpfung für die Masse gegenübersteht (zB Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Erholungsurlaub). Die Insolvenzordnung sieht insoweit keine Einschränkung der Arbeitgeberpflichten zugunsten der Masse vor[1]. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung nach § 7 Abs. 4 BUrlG ist mangels insolvenzrechtlicher Sonderregelung somit ebenfalls eine nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO in voller Höhe zu erfüllende Masseverbindlichkeit, falls der starke vorläufige Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch in Anspruch genommen hat[2].

Die frühere Rechtsprechung des Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts zu § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO steht dem nicht entgegen.

Gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO gelten bei Masseunzulänglichkeit als vorrangig zu befriedigende Neumasseverbindlichkeiten iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO die Verbindlichkeiten aus einem Dauerschuldverhältnis, soweit der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit für die Insolvenzmasse die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. Insoweit besteht ein Gleichlauf zu § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO[3].

Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte bezogen auf § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO angenommen, Ansprüche auf Urlaubsabgeltung könnten nicht in voller Höhe als Neumasseverbindlichkeit berichtigt werden, weil dadurch die Masse nicht angereichert werde. Vielmehr sei nur der auf die Dauer der tatsächlich entgegengenommenen Arbeitsleistung entfallende „anteilige“ Geldwert des Urlaubs als Neumasseverbindlichkeit zu berichtigen[4].

Auf Anfrage des hier Sechsten Senats nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG[5] hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts mit Beschluss vom 16.02.2021[6] erklärt, dass er an dieser Auffassung nicht festhalte und sich der Ansicht des hier   Sechsten Senats bzgl. der insolvenzrechtlichen Einordnung von Urlaubsabgeltungsansprüchen auch in Bezug auf § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO anschließe[7].

Die hiergegen von der Insolvenzverwalterin und Teilen des Schrifttums geäußerten Bedenken greifen nicht durch.

Der Hinweis auf den Ausnahmecharakter von § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO im Verhältnis zum Regelfall des § 108 Abs. 3 InsO, welcher dem Schutz der Masse dient[8], führt nicht zu einem Verständnis des Begriffs „soweit“ in § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO in dem Sinne, dass nur Ansprüche der Arbeitnehmer als Masseverbindlichkeit zu befriedigen wären, die unmittelbar der Vergütung einer der Masse zugutekommenden Arbeitsleistung dienen. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt den Ausnahmecharakter der Begründung von Masseverbindlichkeiten vor dem Hintergrund der mit § 1 Satz 1 InsO bezweckten gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger nicht in Frage[9]. Der Begriff „soweit“ in § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO ist aber dahingehend zu verstehen, dass er nur die Entscheidung des vorläufigen Insolvenzverwalters zur Inanspruchnahme des Arbeitnehmers von der zu dessen Freistellung abgrenzt. Dies folgt aus einer Auslegung des § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO unter Berücksichtigung seines systematischen Zusammenhangs mit § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO[10]. Der Verweis auf den Rechtscharakter der Insolvenzordnung als besonderes Vollstreckungsrecht[11] ist in diesem Zusammenhang unbehelflich. Die angeführte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bezieht sich bzgl. der insolvenzrechtlichen Rangordnung auf die Regelungen der Insolvenzordnung selbst. In der vorliegenden Konstellation beschränkt die Insolvenzordnung nicht die Durchsetzbarkeit materiell-rechtlicher Ansprüche, sondern privilegiert im Gegenteil Ansprüche von Vertragspartnern des Schuldners bzgl. ihres insolvenzrechtlichen Rangs, wenn diese – im Fall des § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO noch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens – ihre vertraglich geschuldete Leistung zugunsten der Masse erbringen. Dies entspricht der gesetzgeberischen Zielsetzung. § 55 Abs. 2 InsO will nicht die Masse, sondern den Vertragspartner schützen, um mit dessen Leistungen die Fortführung des Unternehmens zu ermöglichen[12]. Dieser Regelungszweck gebietet keine unterschiedliche Behandlung von Ansprüchen im Sinne einer „Aufwertung“ von Entgelt als Gegenleistung nur für die tatsächliche Arbeitsleistung[13]. Er steht einer solchen Differenzierung vielmehr entgegen. Ein Vertragspartner, dessen Ansprüche nicht vollständig aus der Masse befriedigt werden, wird eher in Betracht ziehen, das Vertragsverhältnis zu beenden, um keine Leistung zugunsten der Masse mehr erbringen zu müssen.

Die bzgl. des Urlaubsabgeltungsanspruchs vertretene Ansicht, dieser sei ein bloßer Geldanspruch, der nicht länger „in dem Kontext der Arbeitsleistung stehe und damit auch nicht als ‚Gegenleistung‘ iRd. § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO berücksichtigt werden könne“[14], ist folglich unzutreffend. § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO setzt nur die grundsätzliche Inanspruchnahme der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers für die Einordnung als Masseverbindlichkeit voraus. Ist dies der Fall, differenziert die Insolvenzordnung nicht weiter danach, welche vertraglichen, tarifvertraglichen oder gesetzlichen Ansprüche des Arbeitnehmers noch „in dem Kontext“ der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung stehen oder hiervon losgelöst entstehen können.

Der von Stimmen im Schrifttum geforderten zeitanteiligen Aufteilung des Urlaubsabgeltungsanspruchs[15] steht schon entgegen, dass dieser Anspruch – im Gegensatz zum Anspruch auf Entgelt für Arbeitsleistung – keinem insolvenzrechtlichen Zeitraum zuordenbar ist[16]. Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts steht damit nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bzgl. zeitabschnittsbezogen teilbarer Ansprüche aus anderen Dauerschuldverhältnissen[17]. Eine rechnerische Aufteilung des Urlaubsabgeltungsanspruchs gibt § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO bezogen auf die insolvenzrechtliche Einordnung wie ausgeführt nicht vor, so dass sich nicht die Frage stellt, ob eine solche Aufteilung unionsrechtlich überhaupt zulässig wäre oder ob die insolvenzrechtliche Regelung wegen des Vorrangs des Unionsrechts insoweit unangewendet bleiben müsste[18].

Soweit der Sechste Senat in seinem Teilurteil vom 10.09.2020[1] unter Verweis auf Hefermehl[19] angeführt hat, dass über die Fiktion des § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO die Ansprüche des zur Arbeitsleistung herangezogenen Arbeitnehmers so behandelt werden, als ob der starke vorläufige Verwalter das Arbeitsverhältnis selbst durch Neuabschluss begründet hätte, kann daraus entgegen der Auffassung der Insolvenzverwalterin nicht geschlossen werden, dass eine Masseverbindlichkeit allenfalls im Umfang eines Anspruchs auf Teilurlaub nach § 5 Abs. 1 BUrlG entstehen könne. Die Aussage des Senats bezieht sich erkennbar nicht auf Ansprüche aus bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen, sondern auf die Folgen der Entscheidung des vorläufigen Insolvenzverwalters, die Arbeitsleistung in Anspruch zu nehmen. Diese Entscheidung weist im Verhältnis zur Masse dieselbe Qualität wie die einer Neueinstellung auf. Eine die Durchsetzbarkeit arbeitsvertraglicher Ansprüche aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis einschränkende fiktive „Rückstellung“ auf Ansprüche aus einem neu begründeten Arbeitsverhältnisses sieht § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO aber nicht vor.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. November 2021 – 6 AZR 94/19

  1. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 42[][]
  2. vgl. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 43 ff.[]
  3. vgl. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 54; 16.02.2021 – 9 AS 1/21, Rn. 8; kritisch Klinck Anm. AP BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 116 unter II[]
  4. BAG 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, Rn. 25 ff., BAGE 120, 232[]
  5. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 55 ff.[]
  6. BAG 16.02.2021 – 9 AS 1/21[]
  7. BAG 16.02.2021 – 9 AS 1/21, Rn. 7 ff. mwN[]
  8. vgl. Berner/Werner ZInsO 2021, 950, 954; Ries EWiR 2021, 49, 50; Krings NZA 2021, 399, 401[]
  9. vgl. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 41; 25.01.2018 – 6 AZR 8/17, Rn. 18, BAGE 161, 368[]
  10. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 42 ff.[]
  11. vgl. Ganter Anm. NZI 2021, 446, 451[]
  12. BAG 10.09.2020 – 6 AZR 94/19 (A), Rn. 45[]
  13. idS aber Klinck Anm. AP BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 116 unter III[]
  14. so Krings NZA 2021, 399, 402[]
  15. vgl. Breitenbücher EWiR 2021, 371, 372; Ganter Anm. NZI 2021, 446, 452; Klinck Anm. AP BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 116 unter III; Ries EWiR 2021, 49, 50[]
  16. BAG 16.02.2021 – 9 AS 1/21, Rn.19[]
  17. vgl. zum Mietverhältnis BGH 11.03.2021 – IX ZR 152/20, Rn. 3[]
  18. vgl. zum Unionsrecht BAG 16.02.2021 – 9 AS 1/21, Rn. 14 f.; zur fehlenden Absicherung der Urlaubsabgeltung durch das Insolvenzgeld BAG 6.09.2018 – 6 AZR 367/17, Rn. 31, BAGE 163, 271[]
  19. MünchKomm-InsO/Hefermehl, 4. Aufl. § 55 Rn. 229[]