Die Insolvenzgeldvorschriften des SGB III sind europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass ein zweites formelles Insolvenzereignis nach förmlichem Abschluss einer Insolvenzplanüberwachung zur Begründung des Insolvenzgeldanspruchs genügt.

Anspruch auf Insolvenzgeld haben gemäß § 183 SGB III in der hier maßgeblichen, bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung Arbeitnehmer, die im Inland beschäftigt waren und bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers, Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Ein entsprechender Antrag ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu stellen (§ 324 Abs. 3 SGB III). Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin hinsichtlich des im streitgegenständlichen Zeitraum ausgefallenen Arbeitsentgelts vor.
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellt ein berücksichtigungsfähiges Insolvenzereignis im Sinne von § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. dar. Im hier entschiedenen Fall hatte die Klägerin aufgrund der Eröffnung des ersten Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH zwar bereits Insolvenzgeld erhalten. Aufgrund dieses Insolvenzereignisses steht ihr daher – auch unter Berücksichtigung der Vertrauensschutzregelung gemäß § 183 Abs. 2 SGB III a.F. – kein Insolvenzgeld mehr zu. Das vorangegangene, im Jahr 2004 eröffnete Insolvenzverfahren entfaltet allerdings keine Sperrwirkung und steht einem Insolvenzgeldanspruch für den streitgegenständlichen Zeitraum daher nicht entgegen. Bei dem im Jahr 2010 eingetretenen handelt es sich vielmehr und ein neues Insolvenzereignis im Sinne der Insolvenzgeldvorschriften.
Ein neues Insolvenzereignis tritt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zwar grundsätzlich nicht ein, solange die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert. Eine andauernde Zahlungsunfähigkeit in diesem Sinne ist so lange anzunehmen, wie er nicht in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Sie endet nicht bereits dann, wenn der Schuldner einzelne Zahlungsverpflichtungen wieder erfüllt. Für eine erneute Zahlungsfähigkeit genügt es daher nicht, wenn die Betriebstätigkeit fortgeführt wird und die laufenden Verbindlichkeiten wie z.B. Lohnansprüche befriedigt werden. Vielmehr muss grundsätzlich auch hinsichtlich der Altschulden eine Sanierungsregelung getroffen sein.
Allein die Bestätigung des Insolvenzplans und die darauf folgende Aufhebung des ersten Insolvenzverfahrens beseitigt vor diesem Hintergrund allein nicht eingetretenen (ersten) Insolvenzfall. Von einer Fortdauer des ersten Insolvenzereignisses ist vielmehr jedenfalls so lange auszugehen, wie die im Insolvenzplan vorgesehene Überwachung der Planerfüllung andauert. Denn während der Dauer der Planüberwachung wird der Zusammenhang mit dem vorangegangenen Insolvenzverfahren durch die fortbestehenden Aufgaben und Befugnisse des Insolvenzverwalters und die Aufsicht des Insolvenzgerichts dokumentiert. Die Möglichkeit eines erneuten insolvenzgeldrelevanten Insolvenzereignisses war daher zumindest während der Phase der Planüberwachung ausgeschlossen. Auch danach war die GmbH im hier entschiedenen Fall materiell-rechtlich gesehen nicht in der Lage, ihre fälligen Verbindlichkeiten im Allgemeinen zu erfüllen. Der Insolvenzplan wurde nicht vollständig erfüllt, sondern es bestanden eine Vielzahl von Restverbindlichkeiten, die zu erfüllen das Unternehmen nicht in der Lage war.
Gleichwohl kommt es auf die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit im materiellen Sinne nach förmlichem Abschluss einer Insolvenzplanüberwachung nicht an. § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. (jetzt: § 165 Abs. 1. Satz 1 SGB III) ist vielmehr europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass auch ein nachfolgendes formelles Insolvenzereignis trotz fortbestehender Insolvenz ausreicht, um einen Anspruch auf Insolvenzgeld auszulösen. Dies folgt daraus, dass der nationale Gesetzgeber von der ihm durch das europäische Richtlinienrecht (Richtlinie 2008/94/EG vom 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers eingeräumten Möglichkeit der Zusammenfassung mehrerer Insolvenzverfahren zu einem Gesamtverfahren keinen Gebrauch gemacht hat.
Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaates vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn entweder die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde die Eröffnung des Verfahrens beschlossen oder sie festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Arbeitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht ausreicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen. Nach Nummer 4 der Erwägungsgründe zur Richtlinie 2008/94/EG sollen die Mitgliedstaaten, um zu bestimmen, ob die Garantieeinrichtung zu einer Zahlung verpflichtet ist, vorsehen können, dass für den Fall, dass das Vorliegen einer Insolvenz zu mehreren Insolvenzverfahren führt, die Situation so behandelt wird, als handelte es sich um ein einziges Insolvenzverfahren. Während die Richtlinie also grundsätzlich an ein formelles Insolvenzereignis anknüpft, ermöglicht sie den Mitgliedstaaten die insolvenzgeldrechtliche Zusammenfassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse zu einem Gesamtverfahren. Zusätzlich haben die Mitgliedstaaten nach Art. 12 a) der Richtlinie 2008/94/EG das Recht, die erforderlichen Maßnahmen zur Missbrauchsabwehr zu treffen. Hiervon hat der nationale Gesetzgeber in § 183 Abs. 2 SGB III a.F. dadurch Gebrauch gemacht, dass er bei Weiterarbeit oder Arbeitsaufnahme nach Eintritt des Insolvenzereignisses grundsätzlich an die Kenntnis des Arbeitnehmers anknüpft. Daneben ist die Anordnung eines Gesamtverfahrens im Sinne einer Zusammenfassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse zu einem Gesamtverfahren im deutschen Recht allerdings nicht erfolgt. Es handelt sich hierbei um eine wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidung erheblicher Tragweite, die allein dem parlamentarischen Gesetzgeber obliegt. Dieser hat aber bislang eine entsprechende Anordnung nicht getroffen und Voraussetzungen definiert, unter denen ein zweites Insolvenzverfahren, das auf ein erstes Insolvenzverfahren mit angeschlossenem und formell beendeten Insolvenzplanverfahren wie hier mit zeitlichem Abstand folgt, nur ein unselbständiger Teil des ersten Verfahrens ist. Nur durch eine entsprechende eindeutige gesetzgeberische Regelung würde indes gewährleistet, dass Arbeitnehmer ihr Verhalten im Wissen darum, dass an die Weiterbeschäftigung trotz förmlicher Beendigung eines Insolvenzverfahrens keine Insolvenzgeldansprüche geknüpft sind, ggf. einstellen können. Denn es kann von einem Arbeitnehmer schlechterdings nicht erwartet werden, die Liquidität seines Arbeitgebers zu beurteilen und sein Verhalten daran auszurichten, wenn dieser seine Unternehmenstätigkeit nach Abschluss eines förmlichen Planüberwachungsverfahrens ohne weitere behördliche Aufsicht fortsetzt. Ungeachtet dessen, dass der Arbeitnehmer weder über Wege noch über Mittel verfügen dürfte, um eine solche Prüfung durchzuführen, besteht nach dem öffentlich bekannt gegebenen Ende der Überwachungsphase bei ununterbrochenen Lohnzahlungen überhaupt kein Anlass zu Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers. Die von der Beklagten favorisierte Auslegung, die allein auf der Fortentwicklung von Richterrecht beruht und im Gesetzeswortlaut nicht zwingend angelegt ist, würde vor diesem Hintergrund zu einer unangemessenen Belastung des durch die Insolvenzgeldvorschriften geschützten Arbeitnehmers führen.
Nachdem eine gesetzliche Regelung zur insolvenzgeldrechtlichen Zusammenfassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse bislang nicht existiert, kann an eine solches bei europarechtskonformer Auslegung des geltenden Insolvenzgeldrechts in Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Unternehmen nach Durchführung eines Insolvenzverfahrens ohne insolvenzrechtliche Beschränkungen weiter operiert, nicht angeknüpft werden.
Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 8. Mai 2012 – S 16 AL 4404/10