Der Europäische Gerichtshof hat jetzt entschieden, dass das niedersächsische Landesvergabegesetz mit dem EU-Recht nicht vereinbar und damit aufzuheben ist.

Das Oberlandesgericht Celle hatte dem EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren die Frage vorgelegt, ob die Tariftreueverpflichtung des niedersächsischen Landesvergabegesetzes eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach dem EG-Vertrag darstellt. Zuvor hatte bereits das Bundesverfassungsgericht in eine vom Bundesgerichtshof vorgelegten Verfahren über das Berliner Tariftreuegesetz dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt – aber der Prüfungsmaßstab des Grundgesetzes ist halt ein anderer als der des Europäischen Rechts. Und auch auf europäischer Ebene ist die Entscheidung eine Überraschung, hatte doch noch der Generalanwalt in seinem Plädoyer noch die Europarechtskonformität der Tariftreue-Regelungen bestätigt.
Das Urteil des EuGH dürfte jetzt zur Aufhebung der Tariftreue-Regelungen in den Bundesländern führen. Ein großer Verlust dürfte dies allerdings nicht sein, wenn die Begründung eines nordrhein-westfälischen Gesetzesentwurfes zutrifft. Hier in NRW ist das Tariftreuegesetz bereits zuvor wieder aufgehoben worden mit der ausdrücklichen Begründung, dass die gesetzliche Regelung in der Zeit ihres Bestehens vollkommen wirkungslos geblieben wäre.
Von der Entscheidung des EuGH nicht betroffen ist es im Übrigen, wenn ein Landesgesetzgeber die Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns (entsprechend der EU-Entsende-Richtlinie und dem deutschen Entsendegesetz) vorschreibt, er darf nach dem Urteil für öffentliche Ausschreibungen nur nicht die höheren Abschlüsse eines örtlichen Tarifvertrages verbindlich zugrunde legen.
Ein Lohnsatz, der in einem nicht für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag in einem Mitgliedstaat, in dem es ein entsprechendes System gibt, festgelegt worden ist, darf Erbringern staatenübergreifender Dienstleistungen, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entsenden, nicht durch eine auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbare gesetzliche Maßnahme dieses Mitgliedstaats vorgeschrieben werden
Das Niedersächsische Landesvergabegesetz sieht u. a. vor, dass Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen vergeben werden dürfen, die sich schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern mindestens das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen. Der Auftragnehmer muss sich zudem verpflichten, diese Verpflichtung Nachunternehmern aufzuerlegen und ihre Beachtung zu überwachen. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung löst die Zahlung einer Vertragsstrafe aus.
Aufgrund dieser Bestimmungen verpflichtete sich das Unternehmen Objekt und Bauregie, den beim Bau der Justizvollzugsanstalt Göttingen-Rosdorf eingesetzten Arbeitnehmern die im entsprechenden Tarifvertrag für das Baugewerbe (im Folgenden: Baugewerbe-Tarifvertrag) vorgesehenen Entgelte zu zahlen. Es stellte sich jedoch heraus, dass ein polnisches Unternehmen als Nachunternehmer von Objekt und Bauregie seinen auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitnehmern nur 46,57 % des vorgesehenen Mindestlohns gezahlt hatte, was in einem gegen den Hauptverantwortlichen des polnischen Unternehmens ergangenen Strafbefehl festgestellt wurde. Nachdem der Werkvertrag aufgrund der Strafverfolgungsmaßnahmen gekündigt worden ist, streiten das Land Niedersachsen und der Insolvenzverwalter über das Vermögen des Unternehmens Objekt und Bauregie darüber, ob dieses wegen Verletzung der Entgeltverpflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe von 84 934,31 Euro (entsprechend 1 % der Auftragssumme) verpflichtet ist.
Das Oberlandesgericht Celle, das den Rechtsstreit als Berufungsgericht zu entscheiden hat, hat Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der die Vertragsstrafe vorsehenden Bestimmungen. Es hat dem Gerichtshof daher die Frage vorgelegt, ob der freie Dienstleistungsverkehr einer gesetzlichen Verpflichtung des
Zuschlagsempfängers eines öffentlichen Bauauftrags entgegensteht, seinen Arbeitnehmern mindestens das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen.
In seinem heute ergangenen Urteil gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die fraglichen Bestimmungen mit der Gemeinschaftsrichtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern unvereinbar sind.
Dazu führt er aus, dass der Lohnsatz nach dem Baugewerbe-Tarifvertrag nicht nach einer der in der genannten Richtlinie vorgesehenen Modalitäten festgelegt worden ist. Zwar gibt es in Deutschland ein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, doch ist der Baugewerbe-Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden. Außerdem erstreckt sich die Bindungswirkung dieses Tarifvertrags nur auf einen Teil der Bautätigkeit, da zum einen die einschlägigen Rechtsvorschriften nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind und nicht für die Vergabe privater Aufträge gelten und zum anderen der Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist. Die landesrechtlichen Vorschriften entsprechen somit nicht den Bestimmungen der Gemeinschaftsrichtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, nach denen die Mitgliedstaaten bei einer staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen Mindestlohnsätze vorschreiben können.
Wie der Gerichtshof weiter feststellt, wird diese Auslegung der Richtlinie durch deren Würdigung im Licht des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs bestätigt. Die Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs, die sich aus der Verpflichtung zur Zahlung des tarifvertraglich vorgesehenen Entgelts an die Arbeitnehmer ergibt, ist im vorliegenden Fall insbesondere nicht durch den Zweck des Schutzes der Arbeitnehmer gerechtfertigt.
Es ist nämlich,so der EuGH, nicht nachgewiesen worden, dass ein im Bausektor tätiger Arbeitnehmer nur bei seiner Beschäftigung im Rahmen eines öffentlichen Auftrags für Bauleistungen und nicht bei seiner Tätigkeit im Rahmen eines privaten Auftrags des Schutzes bedarf, der sich aus einem solchen Lohnsatz ergibt, der im Übrigen über den Lohnsatz nach dem deutschen Arbeitnehmer-Entsendegesetz hinausgeht.
Gerichtshof der Euorpäischen Gemeinschaften, Urteil vom 3. April 2008 – C‑346/06